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Von: Christiane Völz
In vielen Frauenhäusern dürfen Söhne gewaltbetroffener Bewohnerinnen ab einem bestimmten Alter nicht mehr untergebracht werden. Das hat gute Gründe – hindert aber auch viele betroffene Mütter daran, Schutz zu suchen. Über ein Spannungsfeld, in dem es Lösungen braucht.
Bundesweit gibt es mehr als 350 Frauenhäuser, in denen Frauen mit ihren Kindern in Gewaltsituationen Zuflucht, Schutz und Beratung erhalten. Die Aufnahme von Frauen mit ihren Kindern in Frauenhäusern steht immer im Kontext der Gewalterfahrung und einer damit verbundenen, akuten Krisensituation. Jugendliche Mädchen, die ihre Mütter begleiten bzw. gemeinsam vor der häuslichen Gewaltsituation fliehen, finden Aufnahme im Frauenhaus. Für männliche Jugendliche ist dies oftmals nicht möglich.
Verbleibsituation von Jugendlichen
Gründe können sein, dass ältere Kinder oftmals ihr Umfeld mit Schule und Freunden nicht verlassen wollen oder sie nicht in einem Frauenhaus leben wollen. Viele haben keine Vorstellung davon, was im Frauenhaus auf sie zukommt. Die Dynamik langjähriger Gewaltbeziehungen kann dazu führen, dass Kinder die Gewalt als normale Interaktion wahrnehmen. In der Folge können männliche Jugendliche ihre gewaltbetroffenen Mütter als schwach erleben dazu neigen, sich mit den Vätern zu identifizieren und zu diesen zu halten. Darüber hinaus kommt es vor, dass Jugendliche bereits in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe oder in Pflegefamilien leben. Für männliche Jugendliche selbst ist der Aufenthalt im Frauenhaus ebenfalls mit Einschränkungen und Unsicherheit verbunden. Aufgrund der räumlichen Situation gibt es kaum Rückzugsmöglichkeiten, wenn das Zimmer mit der Mutter und womöglich weiteren jüngeren Geschwistern geteilt werden muss. Küchen, Sanitär- und Gemeinschaftsräume werden in den meisten Häusern mit allen Bewohnerinnen geteilt. Es gibt keine männlichen Ansprechpersonen und Berater, mit denen männliche Jugendliche ihre Themen, Sorgen und Bedürfnisse besprechen können.
Allerdings ziehen ältere Jungen auch aufgrund der Altersgrenze nicht mit ins Frauenhaus, denn:. Der überwiegende Teil der Frauenhäuser nimmt keine älteren Jungen ab 12 Jahren auf, manche setzen die Grenze bis zum Alter von 14 Jahren. Das Frauenhaus, als erster Ort des Schutzes und Rückzugs nach der eigenen Gewalterfahrung, bietet Frauen Sicherheit und Abstand. Von den Bewohnerinnen im Frauenhaus kann die Anwesenheit eines männlichen Jugendlichen als bedrohlich empfunden werden. Für manche gewaltbetroffenen Frauen wirkt die Begegnung in dieser Schutzeinrichtung mit männlichen Jugendlichen irritierend, einschränkend und schlimmstenfalls retraumatisierend. Tatsache ist aber auch, dass viele Frauen nicht den Schritt ins Frauenhaus gehen, sondern in der Gewaltsituation verbleiben, weil sie ihre Jungen nicht mitnehmen können.
Jugendphase im Spiegel häuslicher Gewalt
Häusliche Gewalt hat Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, die Gewalt gegen ein Elternteil miterleben oder selbst von Gewalt innerhalb der Familie betroffen sind. Gewalt richtet sich oftmals nicht nur gegen Mütter, sondern kann sich auf Kinder ausweiten, wenn kein Einhalt geboten wird. Weibliche und männliche Jugendliche befinden sich in einer besonderen Entwicklungsphase mit spezifischen Entwicklungsaufgaben und Herausforderungen. Neben den körperlichen Veränderungen werden in dieser Phase Bildungsentscheidungen getroffen, Freundschaften und Paarbeziehungen entstehen und die Ablösung vom Elternhaus mit der Entwicklung einer eigenen selbständigen Lebensperspektive findet statt. Häusliche Gewalt ist zu diesen Übergangsanforderungen ein zusätzlicher bedrohlicher Stressor und wirkt auf diese persönliche Entwicklung ein. Dies kann sich unter anderem in gesundheitlichen Einschränkungen, Schuldgefühlen gegenüber Elternteilen oder Geschwistern, Lernschwierigkeiten oder Ängsten zeigen. Problematische Familienstrukturen und damit verbundene Gewalterfahrungen können für Jugendliche eine Last darstellen, die im frühen Jugendalter, aber auch im jungen Erwachsenenleben den Verselbständigungsprozess prägen. Gerade daher muss ein stärkerer Fokus auf die Bedarfe und Bedürfnisse von männlichen und weiblichen Jugendlichen gelegt werden, wenn Mütter ihre Lebenssituation verlassen und verändern wollen. Der notgedrungene Verbleib beim gewalttätigen Elternteil kann keine Alternative sein. Auch 14 oder 15-jährige Jungen können den Wunsch haben, bei der Mutter zu bleiben, wenn sie ins Frauenhaus geht. Die Trennung von der Mutter kann als zusätzliche Belastung empfunden werden, da sie als wichtige Schutz-, Bezugs- oder Vertrauensperson fehlt.
Ansatzpunkte für jugendgerechte Frauenhausarbeit
Viele Frauenhäuser versuchen deshalb, über ihren Kernauftrag hinaus für diese jungen Menschen Angebote im Frauenhaus zu entwickeln. Wie ein Workshop mit Mitarbeiterinnen von AWO Frauenhäusern im November 2020 zur Situation von Jugendlichen und jungen Frauen in Frauenhäusern gezeigt hat, gibt es hier noch viele Leerstellen. Es beginnt bereits mit der Frage, ob die Verbleibsituation der jugendlichen Kinder in den Gesprächen mit den Frauen thematisiert wird. Jugendliche im Frauenhaus zeigen sich häufig eher verschlossen. Mitarbeiterinnen stellen sich daher die Frage, wie sie die jungen Menschen besser eigenständig ernst nehmen und gut erreichen können, wenn gleichzeitig die Zeit für eine intensive Arbeit mit ihnen fehlt. Viele weibliche und männliche Jugendliche konnten bislang eigene Bedürfnisse nicht wahrnehmen und ausleben. Wie gelingt es, sie darin zu bestärken? Wie gehen sie mit unterschiedlichen Zielen und Vorstellungen von Müttern und ihren jugendlichen Kindern um? Manche Jugendlichen kommen unfreiwillig mit ins Frauenhaus. Hilfreich kann es sein, wenn sich Jugendliche selbst einen Eindruck von der Situation im Frauenhaus machen können. Dies ist bei Frauenhäusern mit anonymer Adresse natürlich nicht möglich, aber es gibt Frauenhäuser mit bekannter Adresse, in deren räumlicher Nähe beispielsweise ambulante Beratungsstellen angesiedelt sind und die diese Möglichkeit anbieten können.
Obwohl viele Mitarbeitende in ihrer Arbeit in Frauenhäusern und Beratungsstellen die Partizipation von Jugendlichen befürworten, gibt es noch zu wenig konkrete pädagogische Erfahrungen und Ansatzpunkte. Jugendliche beanspruchen Mitsprachemöglichkeiten. Sie akzeptieren Entscheidungen nicht oder zumindest nicht unhinterfragt. Knappe personelle Ressourcen und die Fokussierung auf die geförderten Kernaufgaben von Frauenhäusern lassen nur wenig Spielraum, um beispielsweise verstärkt die Mitwirkung von Jugendlichen in der Frauenhausarbeit zu fördern und bedarfsgerechte Angebote vorzuhalten.
Insbesondere für männliche Jugendliche können männliche Berater, den Prozess der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben sowie die Entwicklung einer eigenen Lebensplanung nach erlebter häuslicher Gewalt unterstützen. Die Fachkräfte in Frauenhäusern sind in der Regel Frauen. Einige Frauenhäuser mit konzeptionell systemischer Ausrichtung setzen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bereits teils männliche Fachkräfte ein.
Das Vorhalten von Schutzwohnungen für Frauen mit jugendlichen Kindern kann eine Möglichkeit sein, dass Jugendliche die Gewaltsituation gemeinsam mit ihren Müttern verlassen und bei diesen bleiben können. In eigenen Schutzwohnungen erhalten Jugendlichen während des Aufenthalts ein gewisses Maß an Privatsphäre. Einige Frauenhäuser verfügen über diese Möglichkeiten. Die übergreifende Anerkennung des Bedarfs besonderer Schutzangebote für Frauen mit jugendlichen Kindern muss noch stärker ins öffentliche Bewusstsein gebracht werden. Die gemeinsame Unterbringung von Müttern mit jugendlichen Kindern kann dazu beitragen, dass Jugendlichen prekäre Situationen wie beispielsweise das wechselnde Übernachten bei Freunden und Bekannten erspart bleibt.
Eine vertiefte Sensibilisierung für die Situation der Jugendlichen ist ebenso notwendig wie die konzeptionelle Verankerung von Kooperationen mit der Jugendhilfe. Die Zusammenarbeit zwischen Antigewaltarbeit und Jugendhilfe ist sinnvoll und dringlich. Aufgrund der unterschiedlichen Gegebenheiten in den Frauenhäusern vor Ort können nicht alle wünschenswerten und erforderlichen Angebote durch die Mitarbeitenden entwickelt und durchgeführt werden. Um gute Angebote und Lösungen im Sinne der weiblichen und männlichen Jugendlichen zu entwickeln, sollten beide Perspektiven – des Frauengewaltschutzes und der Jugendhilfe – zusammengebracht werden. Bezogen auf die Jugendhilfe umfasst dies insbesondere die Erziehungs- und Familienhilfe, die Jugendsozialarbeit und Schulsozialarbeit.
Eine übergreifende Zusammenarbeit kann weitere Handlungserfordernisse und – empfehlungen hervorbringen. Bedarfe, Leerstellen und Ansatzpunkte aus mehreren Perspektiven zu beschreiben und mit konkreten Ideen und Möglichkeiten der Kooperation zu verknüpfen, kann für Jugendliche neue Türen öffnen für ein Leben ohne häusliche Gewalt.
Es müssen Möglichkeiten geschaffen werden, dass Frauen mit jugendlichen Kindern jederzeit die Möglichkeit haben, die Gewaltsituation zu verlassen und ihre Kinder mitzunehmen. Männliche und weibliche Jugendliche müssen gleichermaßen die Möglichkeit haben, ihre Mütter ins Frauenhaus begleiten zu können. Dafür braucht es konzeptionelle Antworten.
Literatur:
- AWO Bundesverband 2017: Rahmenkonzeption und Leitlinien der geschlechtsspezifischen Antigewaltarbeit in der Arbeiterwohlfahrt. Hilfestrukturen bei Gewalt im sozialen Nahraum. Berlin.
- Bundeskriminalamt 2020: Partnerschaftsgewalt. Kriminalstatistische Auswertung - Berichtsjahr 2019. Wiesbaden
- Europarat 2011: Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt und erläuternder Bericht, Istanbul, 11.05.2011, Council of Europe Treaty Series – Nr. 210.
- Frauenhauskoordinierung e. V. 2018: Statistik Frauenhäuser und ihre Bewohnerinnen. Bewohnerinnenstatistik 2017 Deutschland.
- Frauenhauskoordinierung e. V. 2019: Statistik Frauenhäuser und ihre Bewohnerinnen. Bewohnerinnenstatistik 2018 Deutschland.
- Henschel, Angelika 2019: Frauenhauskinder und ihr Weg ins Leben. Das Frauenhaus als entwicklungsunterstützende Sozialisationsinstanz, Verlag Barbara Budrich, Opladen, Berlin und Toronto
- Mögling T./Tillmann, F./Reißig B. 2015: Entkoppelt vom System. Jugendliche am Übergang ins junge Erwachsenenalter und Herausforderungen für Jugendhilfestrukturen. Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts im Auftrag der Vodafone Stiftung Deutschland (Hrsg).
Jedes Jahr sind in Deutschland mehrere zehntausend Frauen von häuslicher Gewalt betroffen. Kinder und Jugendliche werden Zeuge der Gewalt und/oder sind selbst davon betroffen. Häusliche Gewalt sind alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen beziehungsweise Partnern vorkommen, so die Definition des Europarats. Die am 10.11.2020 von Bundesministerin Giffey vorgestellte Kriminalstatistische Auswertung zur Partnerschaftsgewalt für das Jahr 2019 zeigt, dass die Zahl von Mord und Totschlag, Sexualdelikten, Körperverletzungen oder Stalking ist in (Ex-) Paarbeziehungen im Jahr 2019 mit 141.792 Opfern von Partnerschaftsgewalt auf hohem Niveau geblieben ist und insgesamt einen leichten Anstieg verzeichnet. In 114.903 Fällen waren Frauen von der Gewalt betroffen. Statistisch gesehen wird alle 45 Minuten eine Frau Opfer von vollendeter und versuchter gefährlicher Körperverletzung durch Partnerschaftsgewalt und an fast jedem dritten Tag wird eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Kinder und Jugendliche erleben Gewalt in der Familie bzw. im sozialen Nahraum mit und sind teilweise direkt selbst davon betroffen.
Jährlich erfasst die Frauenhauskoordinierung e. V. in ihrer Bewohnerinnenstatistik auch den Anteil von Kindern und Jugendlichen im Frauenhaus. An der statistischen Erhebung für 2018 nahmen 180 Frauenhäuser teil. In diesen Häusern lebten 2018 7.945 Kinder. Fast 70 % der Frauen hatten Kinder im Alter von bis zu 18 Jahren. Fast 90 % der Kinder, die mit ihren Müttern in ein Frauenhaus gezogen sind, waren jünger als 12 Jahre alt. Nur knapp 11 % der im Frauenhaus lebenden Kinder waren älter als zwölf Jahre alt.
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Christiane Völz