Seite drucken
Wie die AWO Empowerment erfand...bevor es modern wurde.
Die Armut der Familien ist groß. Doch statt einfach Altkleider zu verteilen, will Marie etwas anderes probieren: Sie will den Frauen und Müttern die Möglichkeit geben, selbst Kleidung herzustellen. Damit sie die nicht nur selbst nutzen, sondern auch verkaufen können. Also ruft Marie einen Upcycling-Nähkurs ins Leben.
Klingt nach moderner Ehrenamtlicher im Quartiersmanagement? Ist es aber nicht. So oder so ähnlich lief es bei der AWO schon vor 100 Jahren ab:
© AWO / FES
Aus: Marie Juchacz: Gründerin der Arbeiterwohlfahrt ; Leben und Werk. Bonn, 1979, S. 67.
Während der Kriegsjahre gründen die Frauen Nähstuben und kleine Schuhmachereien. Die Heimarbeitszentrale, wie sie im Auszug oben beschrieben wird, würde man heute vermutlich Repair-Café nennen - und für seine Nachhaltigkeit loben.
Wie revolutionär diese Ideen von Marie Juchacz und ihren Mitstreiter*innen waren, lässt sich heute nur noch schwer nachfühlen. „Wohlfahrt“ - das bedeutete bis zur Gründung der AWO „Almosen von oben“, die oft genug mit subtiler oder offener Abwertung einhergingen:
© FES / AWO
FES / AWO
"Die ersten fünf Jahre" - Beiträge von Marie Juchacz in der "Arbeiterwohlfahrt".
Die Arbeiterwohlfahrt wollte einen ganz anderen Ansatz: Hilfe auf Augenhöhe, Ermächtigung zum selbstbestimmten Leben. Oder, wie es Marie Juchacz ausdrückt:
„Man wollte die Hilfe nicht so, nicht in der Form einer frommen Barmherzigkeit (...). Man wollte Hilfe auch nicht als Geschenk des Reichen an den Armen(...), sondern mehr in der Form der Selbsthilfe. (1)“
Mit anderen Worten: Solidarität und „Empowerment“ als Leitlinien der sozialen Arbeit. Und das viele Jahrzehnte, bevor der Ansatz sich unter dem US-amerikanischen Begriff in der sozialen Arbeit durchzusetzen begann.
Wichtig war und ist der AWO dabei, die Bedingungen, unter denen diese Hilfe zur Selbsthilfe stattfindet, nicht aus dem Blick zu verlieren. Denn es sind diese oft genug ungerechten Rahmenbedingungen, die zum Besseren verändert werden müssen, damit jede*r Einzelne gut leben kann. Empowerment darf nicht nur zum Instrument der Anpassung an widrige Verhältnisse dienen:
„(...) Wie helfen wir uns und den anderen? Wie helfen wir uns schon heute und nicht erst in einer fernen Zukunft, in der vielleicht durch eine sozialere Gesetzgebung (...) viele soziale Nöte aufgehoben sind? (...).(2)“.
Für Marie Juchacz war die Antwort auf diese Frage so revolutionär wie historisch: sie gründete die Arbeiterwohlfahrt. Und machte "Empowerment" zu einem Grundstein der sozialen Arbeit des Verbandes.
(1),(2) Marie Juchacz, Neue Kraft aus der Erfahrung - Beiträge von Marie Juchacz und Lotte Lemke (1949), AWO Bundesverband e.V., 2009, S.6/7