Aktuell
23.07.2020 | Artikel

Rechtsanspruch auf Ganztag für Grundschulkinder: Wie kann er qualitätsvoll ausgestaltet werden? Fünf Thesen

Von: Prof. Dr. Thomas Rauschenbach

 

Rechtsanspruch auf Ganztag für Grundschulkinder: Wie kann er qualitätsvoll ausgestaltet werden? Fünf Thesen.

 

 1. These: Der Ganztag muss endlich mit einer pädagogischen
                  Konzeption verbunden werden

  • Es gibt bisher keine eigene konzeptionelle Ganztagsschulidee, sondern nur Ziele mit einer gewissen Beliebigkeit.
     
  • In der politischen Debatte steht die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eindeutig im Vordergrund. Dieses ist zwar ein legitimes Ziel, doch es bedarf zumindest der Ergänzung durch eine pädagogische Idee, der eine kinder- und adressatenbezogene Sichtweise zugrunde liegen sollte, sprich: bei denen die Schulkinder im Mittelpunkt stehen, nicht die Eltern.
     
  • Dafür ist eine stärkere, gezielte Beteiligung und Einbindung der Kinder unerlässlich. Leitmotivisch könnten dazu die drei Kernherausforderungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen herangezogen werden, wie sie im 15. Kinder- und Jugendbericht ausbuchstabiert wurden (BMFSFJ 2017):

    Qualifizierung – im Sinne des Erwerbs kultureller, sozialer, personaler und praktischer Handlungsfähigkeiten, also eines über Schule hinausweisenden Bildungsbegriffs;

    Verselbstständigung – im Sinne der schrittweisen Befähigung von Heranwachsenden zum selbstständigen und individuellen Handeln;

    Selbstpositionierung – im Sinne einer allmählichen Herausbildung einer eigenen Meinung und Identität, einer Haltung und eigener Standpunkte.
     

  • Insgesamt ist dafür konzeptionell eine stärkere und gezielte Einbindung non-formaler Bildungsangebote und außerschulischer Akteure in den Ganztag notwendig.

 

2. These: Die Politik muss sich über föderale und ressortbezogene
                Grenzen hinweg auf bundeseinheitliche Qualitätsstandards
                einigen

  • Die Grundannahme ist dabei „Keiner schafft es alleine“: Der Ganztag funktioniert nicht in solitärer Zuständigkeit einer föderalen Ebene und nur eines Ressorts. Deshalb sind Bund, Länder und Gemeinden in dieses Vorhaben ebenso einzubinden wie die schulischen und außerschulischen Akteure.
     
  • Grundlage der Zusammenarbeit sollte eine eigenständige und gemeinsam getragene Bildungskonzeption (Bildungsidee) sein, die über zwei bislang limitierende Horizonte hinausweist: mehr als Unterricht und zugleich mehr als Betreuung zu sein. Hierfür sind insbesondere altersgerechte, pädagogisch begründete Konzepte zu entwickeln.
     
  • Eine Verwirklichung dieser Ansprüche muss auf drei Grundpfeilern aufsetzen:
    (1) pädagogisch qualifiziertes Personal einstellen, (2) bedarfsdeckende Tages-, Wochen- und Ferienangebote anbieten und (3) eine auskömmliche Finanzierung des Ganztags gewährleisten.

 

3. These: Billig- und Ausweichlösungen sind abzuschaffen

  • Kennzeichnend für die aktuell vorhandenen Ganztagsangebote in Deutschland ist ein diffuses Nebeneinander unterschiedlicher Angebotsformate: (1) gebundene, teilgebundene und offene Ganztagsschulen (mit oder ohne Einbindung eines Horts),
    (2) eigenständige, schulunabhängige Horte/ Kindertages-einrichtungen  sowie
    (3) Angebote der (Über-)Mittagsbetreuung.

     
  • In der Praxis müssen Eltern oft jenes Ganztagsangebot nehmen, das vor Ort gerade zur Verfügung steht. Anzustreben ist die Abschaffung von unzureichenden Übergangslösungen, die in ihrer Verbindlichkeit und ihrer Planbarkeit fragil erscheinen, rechtlich oft nicht geregelt sind und keinem pädagogischen Konzept folgen. „Wer will, der darf“ kann nicht zum Motto eines qualifizierten Ganztags werden.
     
  • Insgesamt muss der Ganztag durch Professionalität und Fachlichkeit gestärkt werden. So lobenswert ehrenamtliches Engagement aus einer zivilgesellschaftlichen Sicht auch sein kann: Mit Blick auf die primären Adressaten – Schulkinder im Ganztag – ist eine durchgängig hohe Qualität des Angebots anzustreben, und das Fachkräftegebot der Kinder- und Jugendhilfe sollte dabei Maßstab sein.
     
  • Qualitätssichernd sollte zudem auch sein, dass das Projekt Ganztag zu einem selbstverständlichen Bestandteil der einschlägigen Ausbildungen der daran beteiligten Fachkräfte wird: für Erzieher/innen, für Lehrkräfte und Fachkräfte der Sozialen Arbeit.
     
  • Die vielfach prekären und befristeten Anstellungsverträge für das nicht-unterrichtende pädagogische Personal im Ganztag befördern Qualität und Professionalität ebenfalls nicht.

 

4. These: Fortschritte und anhaltende Herausforderungen der
                Ganztagsangebote müssen differenziert öffentlich sichtbar
                gemacht werden

  • Die Gesamtsituation der Ganztagsangebote in Deutschland ist ausgesprochen unübersichtlich (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020). Es stehen kaum belastbare Daten zur Verfügung, es liegt kaum differenziertes Wissen über zentrale Fragen des Ganztags vor: Wer bietet welche Angebote an? Von wie vielen und welchen Schulkindern in welchem Alter werden sie genutzt? Wie ist die Personalausstattung im Ganztag? Welche Qualifikation hat das dort tätige Personal? Wie sind die Öffnungszeiten? Wie sieht es mit der Ferienschließung aus?
     
  • Die beiden vorliegenden Statistiken der KMK und der Kinder- und Jugendhilfe laufen unabgestimmt nebeneinander her und lassen sich nur begrenzt verknüpfen. Eine integrierte Gesamtstatistik mit aussagefähigen Individualdaten (analog zur Kita-Statistik) fehlt völlig, wäre aber mehr als wünschenswert. Damit würden Informationen über die Schulkinder und das Personal zur Verfügung stehen (Rauschenbach & Guglhör-Rudan, im Erscheinen).
     
  • Lange Zeit gab es keinerlei Kenntnisse über die Kosten des Ganztagsprojekts. Das Deutsche Jugendinstitut hat daher 2019 eine aktualisierte Kostenschätzung vorgelegt (Alt et al. 2019), die inzwischen als Richtwert für die weitere Debatte genutzt wird. Detailliertere Analysen für die einzelnen Länder fehlen allerdings.

 

5. These: Die Freiwilligkeit der Inanspruchnahme sollte erhalten bleiben,
                die Verbindlichkeit der Teilnahme sollte jedoch zunehmen

  • Eine generelle Ganztagspflicht wie bei den gebundenen Ganztagsschulen für alle Grundschulkinder würde den Schulcharakter verstärken und ein beteiligungs-orientiertes Ganztags-Profil verschenken.
     
  • Zudem würde dies als massiver Eingriff in die elterlichen Grundrechte wahrgenommen und zu erheblichen verfassungsrechtlichen Kontroversen führen, da Verpflichtungen zum Ganztagsbesuch von vielen Eltern nicht akzeptiert würden. Ganz abgesehen davon würde der Bedarf an Plätzen und Personal dann noch einmal erheblich steigen – und auch die damit verbundenen Kosten.
     
  • Daher muss die Freiwilligkeit in der Nutzung des Ganztagsangebots erhalten bleiben und der Ganztag vor allem durch Qualität und Professionalität überzeugen. Maßstab sollte dabei sein, dass Kinder die Angebote freiwillig, aber gerne nutzen.
     
  • Zugleich müsste auf Seiten der Eltern und Kinder jedoch die Verbindlichkeit in der Teilnahme an den Ganztagsangeboten gesteigert werden. Nicht planbare Gelegenheitsteilnahmen rauben dem Ganztag jede Gestaltungs- und Fördermöglichkeit.
     
  • Die politisch Verantwortlichen (und nicht nur die politische Administration) müssen sich dem Thema Ganztagsschule als Reformprojekt deutlicher und dezidierter annehmen.
     
  • Der in Aussicht gestellte, näher rückende Rechtsanspruch sollte zeitnah in Kraft treten, da nur auf diese Weise Verbindlichkeit, Zielstrebigkeit und Dynamik für die letzte Ausbaustufe der Ganztagsangebote ausgelöst wird.

Der Autor ist Direktor und Vorstandsmitglied des Deutschen Jugendinstituts (DJI). Er stellte seine fünf Thesen am 13. September 2018 auf der Expert*innen-Tagung des Arbeitsbündnisses „Rechtsanspruch guter Ganztag“ vor. Hinter der Veranstaltung steht ein Arbeitsbündnis aus Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, Bertelsmann Stiftung, Robert Bosch Stiftung und Stiftung Mercator mit dem Ziel, Expertinnen und Experten aus der Bildungs- und Jugendhilfelandschaft in einen Dialog zu bringen. Der Beitrag wurde im Juli 2020 um einige Literaturangaben aktualisiert sowie an manchen Stellen präzisiert.

 

Literatur

Alt, C., Guglhör-Rudan, A., Hüsken, K. & Winklhofer, U. (2019): Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder. Kosten des Ausbaus bei Umsetzung des Rechtsanspruchs. München: Deutsches Jugendinstitut.

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2020): Bildung in Deutschland 2020. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung in einer digitalisierten Welt. Gütersloh: wbv.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2017):    15. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin: BMFSFJ.

Rauschenbach, T. & Guglhör-Rudan, A. (im Erscheinen): In the Year 2025: Wie viele Plätze und welches Personal braucht der Rechtsanspruch auf Ganztag im Grundschulalter? Tagungsband der Friedrich-Ebert-Stiftung. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Empfehlen Sie diese Seite weiter:

Laden...

© 2024 AWO Bundesverband e.V...