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Von: Detlef Diskowski
Auch wenn in der öffentlichen wie auch in der Fachdiskussion das bestehende und zu schaffende Ganztagsangebot fast durchweg mit „Ganztagsschule“ gleichgesetzt wird: ohne den Hort wird es nicht gehen.
1. Was den quantitativen Ausbau anbelangt, befinden wir uns im Blindflug. Wir haben keine verlässlichen Planungsgrundlagen für den Ausbau, weil uns schon die Daten über das bestehende Angebot an Ganztagsangeboten für Kinder im Grundschulalter fehlen.
Doch halt, das stimmt nicht ganz. Wir wissen aus der jährlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik sehr genau, dass 2019 fast 500.000 Kinder (von 6,5 bis 10,5 Jahren) in Kindertageseinrichtungen betreut wurden. Von der Statistik der Kultusministerkonferenz (KMK) haben wir erfahren, dass im Schuljahr 2018/2019 in Schulen knapp 1.200.000 Kinder der Klassen 1-4 ganztägig betreut wurden [1]. Leider aber sind die Angaben der KMK nicht sehr verlässlich. Addieren wir z. B. die in Kita und Schule betreuten Kinder zusammen, so werden in drei Ländern weit mehr Kinder betreut als dort insgesamt leben. Was in drei Ländern nur offensichtlich wird, lässt Zweifel an den Daten insgesamt zu.
Doppelzählung ist des Rätsels einfache Lösung! Die KMK zählt einfach alle Kinder in Angeboten, mit denen „die Schulleitung auf der Basis eines gemeinsamen pädagogischen Konzepts (…) kooperiert und eine Mitverantwortung der Schulleitung besteht“.[2] Offensichtlich liegen dabei die Hürden, was ein „gemeinsames pädagogisches Konzept“ ist und wie sich „Mitverantwortung“ ausdrückt, nicht sehr hoch. Dies wird für die zukünftige konzeptionelle Entwicklung zu beachten sein. Jetzt hat es zur Folge, dass zumindest ein sehr großer Anteil der Hortkinder angeblich auch „Ganztagsschüler“ sind.
Bedarfsabschätzungen sind immer mit großen Unsicherheiten verbunden, weil sie als Projektionen der Gegenwart auf die Zukunft zwangsläufig das Verständnis und die Einschätzung der gegenwärtigen Angebotslage als Ausgangspunkt haben. Die besten Anhaltspunkte liefert uns ggw. die DJI-Kinderbetreuungsstudie (KiBS) 2016-2018, auf deren Daten auch die Prognose des Bundesbildungsberichts beruht. Danach wird von einem Betreuungsbedarf bundesweit von 69% aller Kinder der Klassenstufen 1-4 ausgegangen, der sich allerdings in den Ländern höchst unterschiedlich darstellt. Hier wurden die Eltern nach ihren Bedarfen gefragt, die stark geprägt sind von den ihnen bekannten Angeboten, deren Zugangsmöglichkeiten, zeitlichem Umfang, Qualität und Kosten. Die sich bei einem zukünftigen Bundesrechtsanspruch tatsächlich artikulierenden Bedarfe werden mit Sicherheit stark davon geprägt sein, wie diese Angebote gestaltet sind. Das zeigt sich z.B. darin, dass für die Länder Sachsen-Anhalt und Brandenburg – Länder, in denen Kinder im Grundschulalter bereits jetzt einen Rechtsanspruch haben – die Kinderbetreuungsstudie einen bisher ungedeckten Fehlbedarf ausweist. Die Idee also, dass die Nachfrage das Angebot bestimmt, ist auch in den sozialen Dienstleistungen eine nette, aber i.d.R. unzutreffende Idee. Ein vorhandenes, die Erwartungen von Eltern deckendes Angebot wird die entsprechenden Bedarfe hervorbringen, die Entwicklung im U3-Bereich hat es gezeigt.
Aber auch über die Struktur, die rechtliche, finanzielle und fachliche Verankerung der Angebote in Deutschland wissen wir insgesamt nicht viel Verlässliches. Grob kategorisiert der Bundesbildungsbericht nach Ländern mit reinen „Ganztagsschulangeboten“, „Kita-Angeboten für Schulkinder“, solchen, bei denen die „Zuordnung der Ganztagsangebote unklar“ ist und „Ganztagsangeboten für Schulkinder sowohl in Grundschulen als auch Kitas“ [3]. Schaut man einige Zuordnungen näher an, dann löst sich auch diese Kategorisierung auf, weil manchmal die Zuordnung doch sehr klar ist (Brandenburg) und manche reinen Schulangebote sich eher als Hort an der Schule herausstellen (Hamburg).
Auch wenn also in der gegenwärtigen Debatte um den Ganztagsausbau vom Hort und den dort betreuten 500.000 Kindern kaum die Rede ist [4]: soll das Vorhaben gelingen, wird man auf keinen bestehenden Platz verzichten können und werden alle räumlichen, materiellen und personellen Ressourcen ausgeschöpft werden müssen.
Auch wenn also in der gegenwärtigen Debatte um den Ganztagsausbau vom Hort und den dort betreuten 500.000 Kindern kaum die Rede ist: soll das Vorhaben gelingen, wird man auf keinen bestehenden Platz verzichten können und werden alle räumlichen, materiellen und personellen Ressourcen ausgeschöpft werden müssen.
Detlef Diskowski
2. Die Aussage von der Unverzichtbarkeit des Hortes für die zukünftige Ganztagsentwicklung gilt mindestens ebenso sehr für die erforderliche fachliche Entwicklung.
Nun ist es sicherlich nicht so, dass alle Horte ein Vorbild für das zu schaffende Angebot darstellen. Zu oft noch ist der Hort die Verlängerung des Kindergartens in die ältere Kindheit und Beaufsichtigung, Bespielung und Schularbeitsbetreuung stehen im Fokus mancher Einrichtungen. Solche Horte verstehen die Entwicklungsbedarfe [5] der großen Kinder ebenso wenig wie die um Kursangebote in den Nachmittag verlängerte Unterrichtsschule.
Was aber (fast) jeder Hort und die Kindertagesbetreuung insgesamt in den Ausbau der Ganztagsentwicklung einbringen können, ist der erweiterte Blick auf die vitalen Bedürfnisse des Kindes. Kinder sind eben nicht nur Schulkinder, sondern haben Hunger, wollen chillen und ihren eigenen Gedanken, Wünschen und Zielen nachgehen, sie sind soziale Wesen, für die Peers eine neue und zentrale Rolle im Leben einnehmen, die sich loslösen wollen von der Bestimmung durch die Erwachsenen.
Ihr „ganzer Tag“ ist nicht nach sieben Stunden in einer „Ganztagsschule“ beendet [6] und er reduziert sich nicht auf die Teilnahme an Nachmittagsangeboten, die bestenfalls ein lebensnäherer Unterricht in Kursform sind. So liest sich das Angebotsspektrum der Ganztagsschulen eher wie das Programm einer Kindervolkshochschule [7] und weniger wie ein Lebens- und Lernraum, an dem sich Kinder einen ganzen Tag aufhalten wollen. Was Kinder wünschen, was sie bewegt, anspornt und interessiert, kommt m.E. bei der Konzeptionierung und mehr noch in der Praxis zu kurz. Deshalb ist es höchst verdienstvoll, dass Iris Nentwig-Gesemann mit ihrer Forschungsgruppe Kinder selbst dazu befragt hat. Wenn die Ergebnisse vorliegen und wenn sie ernst genommen werden, müsste sich der Blick auf die pädagogische Praxis insbesondere der Ganztagsschulen, erheblich ändern.
Zur Konzeptionierung und zur praktischen Realisierung einer attraktiven Ganztagseinrichtung für die großen Kinder kann die Hortpädagogik Entwicklungshilfe leisten. Sie kann helfen den Blick auf das einzelne Kind zu richten (nicht nur auf den*die Schüler*in), kann die Gruppe, die Familie, das Lebensumfeld als bedingend und zu berücksichtigen einbringen. Die Überwindung des verkürzten Blicks auf die Altersgruppe der großen Kinder als „Schulkinder“ und eine ganzheitlichere Sicht wären der Beitrag des Hortes, um damit das Versprechen einzulösen, dass die Ganztags-Schulen (oder wie auch immer in Zukunft die Einrichtungen genannt werden mögen) ein Lebens- und Lernraum für die Kinder sein sollen… und das genau auch in dieser Reihenfolge der Bedeutung.
Einzelnen Horten gelingt es, sich mit Schulen in einen gleichwertigen Diskurs einzubringen, viele aber scheinen mir noch zu scheu und zu reaktiv („Die Schule nimmt uns nicht ernst.“). Konzeptionelle Grundlegungen gibt es noch zu wenig und werden nicht breit wahrgenommen und diskutiert.[8] Der Hort hätte selbstbewusst den eigenen Bildungsauftrag zu vertreten, der sich nicht auf „soziales Lernen“ beschränkt oder sich in der reinen Abgrenzung zur Schule gefällt. Der Hort könnte präsentieren, was Schulpädagogik häufig nur postuliert. Nämlich die Verbindung von Lebenssituationen, von Alltagsanforderungen mit den als wichtig erachteten Bildungsinhalten, das wäre z.B. das Tischtennisturnier mit der Ausarbeitung eines Ausspielmodus und der Berechnung der Ergebnisse, das wäre die Organisation eines Hortfestes mit Erstellung der Einkaufslisten, der Kalkulation und der Abrechnung der Kosten, das wäre auch die Recherche der Verkehrsverbindungen zur Planung eines Ausflugs.[9]
Es ist aus meiner Sicht eine der beklagenswerten Lücken der Bildungsdiskussion in der Kindertagesbetreuung, dass sie sich auf die frühe Bildung konzentriert hat. Gerade in Ergänzung und Abgrenzung zu den formellen Bildungsprozessen im formalen Setting Schule, hätte die Kindertagesbetreuung die Chance nutzen sollen, den kindheitspädagogischen Bildungsauftrag zu schärfen. Der im 12. Kinder- und Jugendbericht [10] 2005 entfaltete breite Bildungsbegriff, der zwischen den Settings (formal vs. non-formal) einerseits und den Prozessen (formell vs. informell) unterscheidet, hätte die Chance geboten, die jeweils eignen Begrenzungen zu überwinden und ein Konzept für ein institutionenübergreifendes Bildungsverständnis zu entwickeln. Dazu bedarf es aber vor allem der ehrlichen und mit Konsequenzen verbundenen Einsicht in die Grenzen des eigenen Bereichs. So lange Schule sich im Selbstverständnis sonnt, die eigentliche „Bildung“ zu sein und so lange die Kindertagesbetreuung für die großen Kinder auf einer kind-tümelnden Gegenposition beharrt, wird jede Institution (ob Hort oder „Ganztagsschule“) den Entwicklungsbedarfen der großen Kinder nicht gerecht, wird keine Institution der Lebens- und Lernraum sein, den die Kinder brauchen.
Um abschließend noch einmal ganz praktisch zu werden: Es gibt für mich ein fast triviales Qualitätskriterium für eine am „ganzen Leben“ und am „ganzen Tag“ der Kinder orientierten Ganztagseinrichtung: Essen die PädagogInnen – und das meint Lehrkräfte wie ErzieherInnen – gemeinsam mit den Kindern zu Mittag?
Zum Autor: Detlef Diskowski ist Erziehungswissenschaftler und Experte im Bereich Kindertageseinrichtungen
Quellen: