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Von: Hubert Lautenbach
Was heutzutage die Kinder- und Jugendhilfe im Allgemeinen und die Erziehungshilfe im Besonderen bewegt, hatte die Arbeiterwohlfahrt bereits kurz nach ihrer Gründung zum Programm erhoben.
Mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, welches 1922 beschlossen wurde, wurde erstmals deutschlandweit die gesamtgesellschaftliche Verpflichtung zur Jugendwohlfahrt, d.h. der Unterstützung der Erziehung in Elternhaus und Schule bzw. Beruf, gesetzlich verankert. In kommunalen Jugendämtern sollten von nun an diese Aufgaben zentral zusammengefasst werden. Anfangs ungenügende Finanzierung der Jugendämter und anschließend der Nationalsozialismus verhinderten die Entwicklung einer „fortschrittlichen Jugendwohlfahrtsarbeit“[1].
In den 1920er Jahren forderte die AWO die Abkehr von der Fürsorgeerziehung hin zu einer Jugendhilfe, welche nach pädagogischen, psychologischen und therapeutischen Gesichtspunkten im Rahmen des Jugendwohlfahrtsgesetzes durchzuführen sei. Diese Forderung entstand aus den Praxiserfahrungen einer pädagogischen Reform der Heimerziehung, wie sie damals unter anderem von der AWO durchgeführt wurde. Diese Bestrebungen wurden von der AWO nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgegriffen und prägten die Diskussionen um ein einheitliches Jugendhilfegesetz in der Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren entscheidend mit. Was die AWO in den 1920ern als fortschrittlich reformpädagogisch und in Abgrenzung zur damals herrschenden defizitorientierten öffentlichen Fürsorgeerziehung formulierte, ist auch 90 Jahre später noch von erstaunlicher Aktualität:
„Hierbei ist von folgenden Grundforderungen auszugehen:
Verwahrlosung und Gefährdung ist nicht als persönliche Schuld der Kinder und Jugendlichen zu behandeln, Erziehung nicht als Strafe. Ziele und Methoden der öffentlichen Erziehung müssen die einer neuzeitlichen, gesellschaftlichen Erziehung sein. Voraussetzung für ihren Erfolg ist die Feststellung der psychischen und sozialen Ursachen der Gefährdung und Verwahrlosung bei Beginn der Erziehung. Die Erziehung soll vor allem durchgeführt werden in einer lebenswirklichen Umwelt und durch eine innere Bindung zwischen dem Jugendlichen und dem Erzieher, unter Verzicht auf äußeren und geistigen Zwang. Die Jugendlichen sind zum Selbstvertrauen und zum verantwortungsbewußten Gebrauch ihres Willens zu erziehen. Die rechtlichen Garantien für den Schutz der Jugendlichen – vor allem das Beschwerderecht – sind zu gewährleisten. (…) Die öffentliche Erziehung darf den Jugendlichen gegenüber seinen Altersgenossen nicht benachteiligen.“ (Richtlinien zur Umgestaltung der Fürsorgeerziehung des Hauptausschusses für Arbeiterwohlfahrt von 1929)
Auch legte sich die AWO in diesen Richtlinien damals schon für das Verbot von Züchtigungen und körperlich sowie seelisch verletzenden Strafen ein. Jugendliche in Heimen sollten beruflich ausgebildet werden und nicht – wie damals üblich – ausschließlich der landwirtschaftlichen oder hauswirtschaftlichen Tätigkeit zugeführt werden. Jedenfalls sollte Ausbildung gleich der Berufsausbildung Jugendlicher außerhalb von Heimen geregelt und entlohnt werden.
Auch heute setzt sich die AWO dafür ein, dass Kinder und Jugendliche, die außerhalb ihrer Herkunftsfamilie untergebracht sind, die gleichen Chancen und Möglichkeiten bekommen wie ihre Altersgenossen, die in der Herkunftsfamilie aufwachsen. Längst nicht alle der früheren AWO-Forderungen sind heute umgesetzt. So müssen sich z.B. die Jugendämter selbstverständlicher der Zuständigkeit für die Kinder, Jugendliche und auch junge Erwachsene nach Beendigung einer stationären Hilfe widmen.
[1] (Dr. Christa Hasenclever, Reform der öffentlichen Erziehungshilfe – Vorschläge und Forderungen der Arbeiterwohlfahrt, Bonn 1957, S. 8)
Kontakt:
Hubert Lautenbach
Referent Grundsatzfragen SGB VIII und Hilfen zur Erziehung