Seite drucken
Zwei aus Russland geflüchtete Personen berichten zur Themenwoche „Vielfalt“
über ihre Erlebnisse während des Asylverfahrens und aus ihrem Herkunftsland. Die AWO leitet daraus Handlungsnotwendigkeiten ab und stellt Forderungen.
Die Genfer Flüchtlingskonvention besagt, dass alle, „die aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe eine begründete Furcht vor Verfolgung haben“, als Flüchtling geschützt werden. Anerkannt ist, dass Personen, die aufgrund einer lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans*, inter*, queeren* (LSBTIQ*) Lebensrealität Verfolgung erleben, unter diesen Schutz fallen. Die Verfolgung kann seitens der Gesetze erfolgen, welche gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Strafe stellt, nicht selten unter Todesstrafe, als auch durch Bedrohung oder Verfolgung durch Mitbürger*innen oder sogar durch die eigene Familie, während die Regierung untätig bleibt oder sogar an dem Missbrauch beteiligt ist. Die gleichgeschlechtliche Sexualität unterliegt nicht selten einem Tabu im Herkunftsland, gefolgt von dem Zwang die eigene Sexualität oder geschlechtliche Identität zu verstecken oder zu unterdrücken. Diese besondere Situation von LGBTIQ* - Flüchtlingen unterscheidet sich von anderen Flüchtlingen, da sie nicht immer hinreichend Beachtung während des Asylverfahrens findet.
1. Fehlerhafte Entscheidungen beim BAMF wegen veralteter Erkenntnisquellen
S: „In Russland steht Homosexualität nicht unter Strafe. Allerdings gehört es zum Alltag auf der Straße als Schwuchtel bezeichnet zu werden. Jeden Tag erlebten wir Diskriminierungen. Wenn wir als Paar eine Wohnung mieten wollten, so konnten wir das nicht. Wir haben eine Freundin gefragt, ob sie uns begleitet und sich als Freundin von einem von uns ausgibt. Ein andern mal haben wir uns als Cousins ausgegeben, um eine Wohnung anzumieten. Auch bei der Arbeit haben wir unsere sexuelle Orientierung verschwiegen, damit wir hier keine Probleme bekommen.“
G: „Am schwierigsten ist die Zeit beim Militär. Diese Zeit ist traumatisierend. Es kursieren Geschichten. Viele kommen schon verunsichert an und versuchen sich zu verstecken. Allerdings riecht man die Angst. Es herrscht Dominanz und eine toxische Männlichkeit. Verstecken ist da nicht möglich. Es gibt die Möglichkeit den Wehrdienst auf Grund seiner Homosexualität zu verweigern, dann muss man sich einer Prüfung unterziehen und beweisen, dass man schwul ist. Dies führt zu körperlichen Verletzungen. Auch führt dies zur Offenlegung und zur Kenntnis der sexuellen Orientierung. Viele versuchen daher ihre Homosexualität zu verstecken, was durch die patriarchalen Strukturen nicht gelingt. Wenn man den Wehrdienst verweigert, muss man Alternativ 2-4 Jahre einen Dienst im Krankenhaus absolvieren. Diese Zeit ist viel länger und der Dienst wird auch kaum bezahlt. Monatlich bekommt man umgerechnet 130,00 €. Der Lebensunterhalt kann hiermit nicht gesichert werden und man ist auf die Unterstützung der Familie angewiesen. Auch Familien tabuisieren die sexuelle Orientierung und auf eine Unterstützung kann man nicht hoffen. Auch gibt es keine Informationen darüber, dass man auf Grund eines Studiums oder Krankheit den Wehrdienst verweigern kann.“
S: „Daneben kann man auch von staatlicher Seite, wie Staatsanwaltschaft und Polizei, keine Hilfen erwarten.“ G: „einmal wurden mir mein Laptop und mein Ausweis aus meiner Tasche geklaut. In der Nähe parkte ein Auto mit einer Überwachungskamera. Ich habe die Polizei gerufen und auf die Kamera aufmerksam gemacht. Die Polizisten haben mich als Schwuchtel beschimpft und gemeint sie hätten keine Lust auf Schwuchteln. Die Polizisten fertigten kein Protokoll an. Als ich dann meinen Ausweis erneuern wollte, wurde ich bestraft, da ich nicht verantwortungsvoll mit meinem Russischen Pass umgegangen bin und ihn verloren habe. Ich konnte mich gegen diesen Vorwurf nicht wehren, da es kein Protokoll der Polizei gab. Ein anderes Mal war ich mit Freunden feiern. In der Nähe wurde ein Auto eingeschlagen. Als die Polizei unsere Zeugenaussage aufnahm wurde ich ins Gesicht geschlagen und als Schwuchtel beschimpft. Ich wurde zu Boden geworfen und gewürgt. Lange Zeit hatte ich diese Würgemale um meinen Hals. Ich trug einen Schal. Diesen Schal nahm ich sehr lange Zeit, auch nachdem meine Wunden verheilt waren, nicht ab. Die Angst vor der Polizei blieb. Dies passierte weil ich Nagellack trug.“
G: „Wie gesagt, eine rechtliche Verfolgung von Homosexualität gibt es in Russland nicht. Ein freies Leben ist dennoch nicht gegeben. Es gibt keine Filme, Kinderbücher Berichte, Informationen oder dergleichen in denen offen mit unterschiedlichen Lebensrealitäten umgegangen wird. Im Grundgesetz von 2020 ist die Familie Mann und Frau. Die Einsamkeit die einen befällt ist schwer zu fassen. Sehr früh fühlt man sich anders, falsch. Es gibt keine Bezüge, um sich selbst in dieser Welt zu verstehen. Es gibt vereinzelt Kampagnen, wie zum Pride Month, um auf eine LGBTIQ* Lebensweise und Rechte aufmerksam zu machen. Antworten auf solche Kampagnen sind zumeist „ist mir egal was die machen, ich nehme sie nicht ernst. Die werden eh aussterben. Ich habe nichts dagegen, allerdings dürfen meine Kinder das nicht sehen. Wichtige Influenzer*innen posten: „Männer in der rhythmischen Sportgymnastik ist zu viel, ein wahrer Kulturschock, männliches muss männlich bleiben und weibliches weiblich.“ Ein Aufwachsen und Leben und eine freie Entfaltung der Persönlichkeit ist in solch einem Umfeld unmöglich.“
Personen, die aufgrund einer LSBTIQ* - Lebensrealität Verfolgung im Herkunftsland erleben, werden durch die Genfer Flüchtlingskonvention geschützt. Allerdings wird häufig die Verfolgung nur dann als asylrelevant gewertet, wenn dieses Verhalten im Herkunftsland auch unter Strafe steht. Doch in vielen Herkunftsländern ist die Auslebung der individuellen sexuellen und geschlechtlichen Identität zwar nicht strafbar, aber gesellschaftlich de facto nicht möglich. Deshalb müssen andere Erkenntnisquellen in die Asylentscheidungen mit einfließen und Lebensrealitäten nicht nur als Privatangelegenheit gewertet werden. Zum Beispiel steht Sex zwischen Frauen insbesondere in Ländern, in denen die Sexualität von Frauen* allgemein stark tabuisiert ist, nicht unter Strafe. Hier darf jedoch nicht darauf geschlossen werden, dass die Betroffenen keine staatliche Verfolgung zu befürchten haben. Das BAMF muss auch Gesetze in den Herkunftsländern in den Blick nehmen und im Asylverfahren berücksichtigen, die die Selbstbestimmung über den weiblichen* Körper einschränken – von der Verweigerung des Zugangs zu Verhütungsmitteln oder anderen Gesundheitsfürsorgeprodukten bis hin zu Einschränkungen der Kleidung und des Aufenthaltsortes von Frauen* in der Öffentlichkeit.
Zudem beschreiben die vom BAMF und Verwaltungsgerichten herangezogenen Dokumentationen über die Situation in den Herkunftsländern hauptsächlich die Verfolgung homosexueller Männer. Doch auch die spezifischen Probleme und Gefahren, denen u.a. Trans-Personen ausgesetzt sind, müssen in den Asylverfahren berücksichtigt werden. Herkunftslandinformationen die auf eine Personengruppe innerhalb der LSBTIQ*-Gemeinschaft zutreffen, dürfen nicht eins zu eins auf eine andere Gruppe übertragen werden. Existieren keine Herkunftslandinformationen zu einer geschilderten Verfolgung, muss entsprechend dem glaubhaften Vortrag des Asylsuchenden entschieden werden.
Forderungen:
- Die Lebensrealität von LSBTIQ* Flüchtlingen muss ganzheitlich gewertet werden.
- Alternative Erkenntnisquellen müssen herangezogen werden, fehlende Erkenntnismittel dürfen nicht so gedeutet werden, dass keine Verfolgung vorliegt.
- Liegen Erkenntnisquellen nur einer bestimmten Teilgruppe der LSBTIQ* vor, dürfen diese weder ungeprüft auf eine andere Teilgruppe übertragen werden noch darf daraus geschlossen werden, dass für die andere Teilgruppe keine Verfolgungsgefahr besteht.
2. Fehlerhafte Entscheidungen beim BAMF durch Fehler in der Anhörung
G: „Als wir 2019 nach Deutschland kamen hatten wir zu Anfang keine Ahnung. Wir haben nicht sogleich nach Asyl nachgefragt. Wir versuchten erst einmal klar zu kommen. Wir hatten Angst. Kannten unsere Rechte nicht. Glücklicherweise waren wir sehr privilegiert, wir kannten viele Freund*innen und Unterstützer*innen. Ich sprach bereits deutsch und mein Partner konnte englisch. Ich habe erst einmal gegoogelt und die Schwulenberatung in Berlin gefunden. Hier erhielten wir zunächst eine erste Orientierung. Auch habe ich die Genfer Flüchtlingskonvention aufgeschlagen und kommentiert. Nach Antragstellung wurde gegen mich das Dublin-Verfahren eröffnet, da ich mit einem lettischen Visum einreiste. Mein Partner kam gleich in das reguläre Asylverfahren. Er erhielt sehr schnell eine Ablehnung im Asylverfahren als offensichtlich unbegründet. Mein Partner war nicht gut vorbereitet für die Anhörung. Ich hatte Glück. Im Dublin - Verfahren habe ich eine rechtliche Vertretung gefunden, die mich dann auch im Asylverfahren vertreten hat. Durch meine Rechtsanwältin wurde ich sehr gut aufgeklärt. Sie hat mir die Schwierigkeiten und Hürden klar gemacht. Auch ging sie mit zu meiner Anhörung, stellte ebenfalls Fragen, wenn ich vergaß etwas zu erwähnen. Auch die emotionale Unterstützung war wertvoll. Zunächst hatte ich große Bedenken, eine Anwältin zu nehmen und mich vertreten zu lassen, da ich nicht den Schein erwecken wollte, etwas falsch gemacht zu haben oder etwas verbergen zu wollen. Meine Anwältin hat mich dann darüber aufgeklärt, dass eine rechtliche Vertretung in Deutschland etwas ganz normales sei und mit keinerlei Vorbehalten behaftet ist, es sogar zu meinen Rechten gehört. Unter anderem durch diese feinen, allerdings ausschlaggebenden Unterschiede, halte ich eine rechtliche Vertretung im Asylverfahren von Anfang an für enorm wichtig. Ich bekam die Flüchtlingsanerkennung.“
S: „Viele haben Angst zu sagen, dass sie schwul sind. Für viele ist dies das erste Mal. Auch besteht große Angst, mit dem Outing, die Familie im Herkunftsland zu gefährden. Ich hatte Schwierigkeiten in der Anhörung klar zu denken, ich hatte große Angst, u.a. auch deshalb, da ein Abschiebeversuch meines Partner am vorangegangen Tag erfolgte. Besonders unangenehm ist mir die Dolmetscher*in in Erinnerung geblieben. Ich wurde permanent in Frage gestellt. Sagte ich etwas, wurde dies durch die Dolmetscher*in mit ach ja, oder wirklich, quittiert. Ich denke das hatte einen negativen Einfluss auf die Anhörer*in und führte zu großer Skepsis. Auch hatte ich den Eindruck, dass nicht immer das übersetzt wurde was ich sagte. Die Fragen selbst empfand ich nicht als respektlos, allerdings wurde nicht sehr auf meine sexuelle Orientierung und erlebten Diskriminierungen eingegangen, wie gesagt, dass wurde stark angezweifelt. Nach meiner Ablehnung suchte ich eine Beratungsstelle der AWO auf. Hier habe ich meine erste positive Erfahrung im Asylverfahren gemacht. Ich wurde als Mensch gesehen und musste vor Glück weinen. Dass ich mich als Mensch fühlte, lag auch an den Fragen, die mir gestellt wurden und an dem emotionalen Teil des Prozesses. Freunde und Unterstützer*innen konnten sich einbringen, sowie meine Person und meine Erfahrungen. Ich habe mittlerweile auch einem humanitären Aufenthaltstitel erhalten.“
Für LSBTIQ*- Flüchtlinge bestehen große Hürden, mit fremden Menschen über die eigene Sexualität oder Transgeschlechtlichkeit zu sprechen, da gerade das Schweigen darüber im Herkunftsland Sicherheit versprach. Nicht selten schweigen LSBTIQ* - Flüchtlinge über die sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität und geben als Fluchtgrund die allgemeine Lage im Herkunftsland an. Für viele LSBTIQ* ist es schwer, offen über die Verfolgung zu sprechen. Sie haben Angst sich zu outen, insbesondere gegenüber staatlichen Stellen aber auch vor Familienangehörigen, wenn diese als Beistand in der Anhörung zugelassen wurden. Auch die Angst, dass das Coming-Out in Deutschland eine Gefahr für die Familie im Herkunftsland ist, führt zu einem Schweigen. Wichtig ist es daher, durch Aufklärung über die Rechte in Deutschland bestehende Unwissenheit und Unsicherheiten zu beseitigen.
Über die eigene Sexualität zu sprechen bedeutet immer auch einen Eingriff in die Intimsphäre. Kulturelle Unterschiede und die Tabuisierung im Herkunftsland erhöhen das Unbehagen über diesen Fluchtgrund zu sprechen. Durch dieses Unbehagen sind Vorträge häufig detailarm oder nicht chronologisch. Das Resultat ist, dass der detailarme und nicht chronologische Vortrag beim BAMF häufig als unglaubwürdig gewertet wird.
Besonders unglaubwürdig erscheint ein Sachvortrag, wenn dieser nicht der „typisch linearen homosexuellen Lebensweise“ entspricht, wenn bspw. durch gesellschaftlichen Zwang eine heterosexuelle Ehe eingegangen werden musste und innerhalb dieser Kinder gezeugt wurden.
Zudem ist die Übersetzung gerade im Bereich »Sexualität« eine schwierige Aufgabe, da es sich zum einen oftmals um Begriffe handelt, die sehr intim oder sehr umgangssprachlich sind bzw. sprachlich einer subkulturellen Szene zuzuordnen sind. Sprachmittler*innen sind zu sensibilisieren, um ihrer Rolle gerecht zu werden. Sie sollten spezifische Begriffe kennen und in der Lage sein, sie in kontextuell passenden deutschen Begriffen ohne Scham auszudrücken. Zudem dürfen gemachte Erfahrungen nicht an westlicher und heteronormativ geprägter Vorstellung gemessen werden.
Forderungen:
- Beratungen und unabhängige Beratungsstellen sicherstellen, um über Rechte in Deutschland aufzuklären, um bestehende Unwissenheit und Unsicherheiten zu beseitigen.
- Schulungen und Sensibilisierung von Anhörer*innen und Dolmetscher*innen des BAMF
- keine Familienangehörigen in der Anhörung
Die AWO begleitet die 12 Wochen bis zur Wahl unter dem Motto „Deutschland, Du kannst das!“ mit sozial- und gesellschaftspolitischen Forderungen an die kommende Bundesregierung. Dieser Beitrag gehört zur Themenwoche „Vielfalt“. Mehr dazu unter: awo.org/bundestagswahl-2021.