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Von: Kitty Thiel
AWO Bundesverband e.V. unterstützt Statement von SOLIDAR
Das aktuell geltende gemeinsame Europäische Asylsystem weist erhebliche Mängel auf, wie z.B. die fehlende Solidarität sowie die unausgeglichene Verantwortung bei der Durchführung von Asylverfahren zulasten der Mitgliedstaaten mit einer Außengrenze. Aber auch für viele Schutzsuchende enthält das geltende Recht viele Härten, wie bspw. der lebensgefährliche der Weg in den Schutz, die schwer durchsetzbare Familienzusammenführung zu Familienangehörigen in andere Mitgliedstaaten und die unterschiedlichen Anerkennungsquoten, Aufnahmebedingungen und Teilhabechancen in den europäischen Mitgliedstaaten.
Im Jahr 2015 wurde die Notwendigkeit einer Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems sichtbar und die Gespräche aufgenommen. Am 19. Dezember 2023 wurde dann, nach jahrelangen Verhandlungen, eine politische Einigung über die Reform, den sogenannten EU-Pakt zu Migration und Asyl, erzielt. Schon die Vorschläge der Kommission aus dem Jahr 2020 ließen kaum Verbesserungen zu dem aktuellen Recht erkennen. Man hielt weiterhin an der einseitigen Verantwortungsverteilung fest, indem weiterhin der Staat für das Asylverfahren zuständig ist, in dem der Schutzsuchende als Erstes EU-Territorium betreten hat. Das sind schon aus geographischer Sicht häufig die Länder an den äußeren Süd- oder Ostgrenzen Europas, wie beispielsweise Italien, Ungarn oder Griechenland. Zudem kommen verpflichtende Grenzverfahren für viele Schutzsuchende hinzu, die eine zusätzliche Verantwortung für diese Länder mit sich bringt.
Eine Entlastung ihrer Asylsysteme versprechen sich die Mitgliedstaaten dadurch, mehr außereuropäische Drittstaaten als sicher einstufen zu können. Um als „sicher“ eingestuft zu werden, muss der Drittstaat weder der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten sein, noch muss das ganze Land als sicher gelten. Dadurch wird die Möglichkeit eröffnet, dass Mitgliedstaaten sich weitgehend aus dem Flüchtlingsschutz zurückziehen, Asylanträge als unzulässig abzulehnen und Schutzsuchende in das „sichere“ Drittland abzuschieben. Die Erfahrungen mit dem EU-Türkei Deal zeigen, dass dieses Instrument immenses Leid und massive Menschenrechtsverletzungen hervorbringen wird. Die Krisenverordnung, welche in den ursprünglichen Plänen der Kommission noch nicht enthalten war und maßgeblich durch die Mitgliedstaaten eingebracht wurde, erlaubt es Mitgliedstaaten Grenzverfahren im Falle einer Krise und „Instrumentalisierung“ massiv auszudehnen und z.B. alle Schutzsuchenden die Grenzverfahren durchlaufen zu lassen.
Der positive Ansatz mit einem starken Solidaritätsmechanismus - einer gerechten Verteilung der Verantwortung der Aufnahme und Durchführung der Asylverfahren auf die Mitgliedstaaten - einen gewissen Neuanfang zu wagen, wurde stark geschwächt. Zwar gibt es erstmals einen verpflichtenden Solidaritätsmechanismus, allerdings wird die Aufnahme von Schutzsuchenden als Solidaritätsmaßnahme gleichgestellt mit dem Bau von Grenzzäunen an den EU-Außengrenzen oder Projekten in Drittstaaten, die der Fluchtverhinderung dienen. Es ist zu erwarten, dass das ganze System sogar noch bürokratischer wird als die aktuellen Dublin-Regeln.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Das besorgniserregende Ergebnis schwächt das europäische Asylsystem erheblich, anstatt seine Mängel zu beheben. Die fünf Verordnungen des Paktes werden zu mehr Abschottung, niedrigeren Schutz- und Grundrechtsstandards und einer Zunahme von Inhaftierungen und Fällen von Racial Profiling führen.
In den Verhandlungen über den EU-Pakt schwang ein Drang einer Einigung um jeden Preis mit. Dies lässt vermuten, dass sich das Parlament, dessen ursprüngliche Position einige der schlimmsten Elemente des Paktes abgemildert hatte, zu einem absurden Kompromiss zwang. Das Ergebnis hat katastrophalen Folgen für die Grund- und Menschenrechte.
Die Vereinbarung ist nach wie vor eine politische Vereinbarung und muss noch in einen technischen Text umgewandelt werden, der von den Mitgesetzgebern angenommen werden muss. Zusammen mit europäischen Akteur*innen lehnt der AWO Bundesverband e.V. die politische Einigung ab und fordert den belgischen Ratsvorsitz auf, sich aktiv dafür einzusetzen, dass bei den technischen Verhandlungen die Inhaftierung von Familien, beschleunigte und diskriminierende Verfahren, Ausnahmen von den Schutzbestimmungen, eine ungerechte Aufteilung der Verantwortung für Antragsteller und die Erstellung von „Racial Profiling“ vermieden werden.
Mittel- bis langfristig fordert der AWO Bundesverband e.V. einen solidarischen und menschenrechtsbasierten Ansatz für Migration und Asyl in der EU, insbesondere durch:
- Investitionen in die Asylsysteme in Europa, die allen Menschen jederzeit Zugang zu fairen Verfahren garantieren
- die Abkehr von der Praxis der Inhaftierung
- die Verbesserung der Aufnahmebedingungen
- Schaffung eines sinnvollen Solidaritätssystems mit einer gerechten Verteilung der Asylsuchenden auf die Mitgliedstaaten, wobei der Schwerpunkt auf der Umsiedlung liegen muss
- Annahme und Ausweitung sicherer, regulärer und struktureller Wege für die Einreise nach und den Aufenthalt in Europa, und zwar für alle Zwecke
- Unterstützung der langfristigen Eingliederung und Beteiligung aller Migrant*innen
- Förderung eines positiven Bildes von Migration und Interkulturalität