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Von: Alexander Friedrich und Marius Isenberg
Am 26. September findet die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag statt. Dabei steht auch die europapolitische Ausrichtung für die kommenden vier Jahre zur Wahl. Die AWO fordert die neue Bundesregierung dazu auf, sich aktiv für ein solidarisches, soziales und nachhaltiges Europa einzusetzen und die soziale Aufwärtskonvergenz in der EU zu fördern.
Europäische Herausforderungen bedürfen europäischer Lösungen
Die EU hat Erstaunliches erreicht: Vom freien Warenverkehr, der Personenfreizügigkeit, der Dienstleistungsfreiheit und dem freien Kapital- und Zahlungsverkehr profitieren viele Menschen. Trotz dieser Errungenschaften sind in der EU soziale Verwerfungen, hohe Armut und wachsende Ungleichheit zu beobachten, welche durch die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie noch verstärkt werden.
Neben der hohen Armut und steigenden Ungleichheit betreffen die Herausforderungen des Klimawandels, der Migration, der Digitalisierung und des demografischen Wandels alle Menschen in der EU und gehen mit weitreichenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen einher. Diese müssen gemeinsam angegangen sowie sozial und gerecht gestaltet werden.
Zudem stellen populistische und nationale Strömungen das Friedensprojekt Europa, unser Rechtsstaatlichkeitsprinzip und dessen Errungenschaften offen in Frage. Die großen ökonomischen und sozialen Unterschiede können zu einem Legitimationsverlust der EU führen und weiteren Nährboden für nationalistische Bewegungen schaffen.
Armutslage in der EU
Nach Zahlen von Eurostat waren im Jahr 2019 mehr als 91 Mio. Personen (20,9 %) in der EU von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht.[1] Besonders stark von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind Jugendliche und Kinder. In der EU sind 17,89 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren und mehr als 8,8 Mio. junge Erwachsene zwischen 18 und 24 Jahren davon betroffen. Die Zahlen spiegeln noch nicht die weitreichenden Auswirkungen der Corona-Pandemie wider. Viele Menschen in ganz Europa, vor allem bereits zuvor benachteiligte Personengruppen, sind in besonderer Weise durch die Pandemie und ihre Folgen betroffen und werden in existenzielle Notlagen gedrängt.
Hinzu kommt die steigende Arbeitslosigkeit in der EU, die zuletzt bei 7,1 % lag. Dabei sind die regionalen Unterschiede sehr groß. Auch die Jugendarbeitslosigkeit steigt. Während Jugendliche ohnehin viel stärker von Arbeitslosigkeit betroffen sind, hat sich deren Situation im Rahmen der Corona-Pandemie noch einmal verschärft. Im Jahr 2019 lag die Arbeitslosenquote von Jugendlichen in der EU bei 15,3 % und im Jahr 2020 bei 17,1 %.
Darüber hinaus verdienen immer mehr Menschen in der EU so wenig, dass sie von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sind. 2019 waren 9,0 % der erwerbstätigen Personen davon betroffen.
Die Vision der AWO von einem sozialen Europa
Die AWO ist in Zeiten großer Krisen und Kriege in Europa entstanden. Die europäische Einigung und die politische Integration waren für uns eine Befreiung und ein Aufbruch. In diesem Bewusstsein setzen wir uns für ein geeintes Europa ein, unterstützen die europäische Integration und fordern grenzüberschreitende Solidarität. Um jedoch den bestehenden sozialen Verwerfungen, der Armut und der wachsenden Ungleichheit entgegenzutreten, ist der Weg in eine Sozialunion unabdingbar, damit die EU gerechter und sozialer für alle Menschen wird.
Mit ihren vielfältigen sozialen Diensten trägt die AWO aktiv zu einem sozialen Europa bei. Sie ermöglicht soziale Mobilität und stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Außerdem trägt sie aktiv zur Umsetzung der Europäischen Säule Sozialer Rechte bei, z. B. indem sie eine Vielzahl von Projekten im Rahmen des Europäischen Sozialfonds (ESF) und des Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP) durchführt. Darüber hinaus fördert die AWO als Treiberin von sozialen Innovationen den sozialen Fortschritt und verbreitet diesen über ihre vielfältigen sozialen Einrichtungen in der Fläche.
Die europapolitischen Forderungen der AWO an die neue Bundesregierung
Die AWO erwartet von der neuen Bundesregierung, auch in der Europapolitik den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Sie muss das Soziale in den Vordergrund rücken und in diesem Bereich eine Vorbildwirkung in der EU übernehmen. Denn nur gemeinsam und mit sozialverträglichen Lösungen lassen sich die beschriebenen Herausforderungen bewältigen.
Die AWO hat im Rahmen ihrer Bundeskonferenz im Juni 2021 in einem umfassenden Antrag zu Europa ihre Forderungen und Visionen einer sozialen EU erneuert. Diese Visionen hat die AWO anlässlich der bevorstehenden Bundestagswahl als europapolitische Forderungen formuliert, welche untenstehend nachzulesen sind.
Die sozioökonomischen Auswirkungen der Corona-Pandemie in der EU verdeutlichen einmal mehr, dass gut funktionierende Sozialsysteme eine wichtige Stabilisierungsfunktion haben, mit denen Krisen abgefedert werden können. Zudem fördern sie die Chancengerechtigkeit und Teilhabe und stärken den sozialen Zusammenhalt. Um die Sozialsysteme europaweit zu stärken, fordert die AWO von der neuen Bundesregierung, sich für die Einführung einer EU-Rahmenrichtlinie mit Grundsätzen für die soziale Mindestsicherung sowie einer Arbeitslosenrückversicherung einzusetzen. Zusätzlich ist der vorliegende Vorschlag der EU-Kommission über eine EU-Richtlinie für angemessene Mindestlöhne in der EU zügig voranzubringen, um die Arbeitsbedingungen in der EU spürbar zu verbessern.
Darüber hinaus erwartet die AWO von der Bundesregierung, sich sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene für die konsequente Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte und der UN-Nachhaltigkeitsstrategie 2030 einzusetzen. Unter Beachtung der Zuständigkeiten müssen verbindliche Maßnahmen daraus abgeleitet und ihre Grundsätze vorbildhaft in der nationalen Politikgestaltung berücksichtigt werden.
Die AWO ruft die neue Bundesregierung dazu auf, die zur Verfügung stehenden Mittel aus dem EU-Budget dafür zu nutzen, die soziale Infrastruktur und die soziale Resilienz zu stärken. Der partnerschaftliche Ansatz bei der Umsetzung der Europäischen Investitions- und Strukturfonds ist fortzuführen. Bei der Entwicklung und Umsetzung der Förderprogramme muss darauf geachtet werden, dass Verwaltungsverfahren vereinfacht und stärker digitalisiert werden, so dass eine bessere Zugänglichkeit zu EU-Fördermitteln sichergestellt wird. Die EU-Kofinanzierungssätze müssen durch nationale Mittel erhöht werden, damit gemeinnützig tätige Projektträger nicht von einer Förderung ausgeschlossen werden. Im europäischen Bildungsprogramm Erasmus+ müssen bei der nationalen Umsetzung inklusive Ansätze in allen Bildungsbereichen weiter ausgebaut werden.
Die Europäische Kommission hat für den Herbst einen Aktionsplan für die Sozialwirtschaft angekündigt. Da auf europäischer Ebene hier die Gemeinnützigkeit nicht so sehr im Vordergrund steht, wie dies in Deutschland der Fall ist, fordert die AWO von der neuen Bundesregierung, sich für den Vorrang gemeinnütziger Anbieter im Vergaberecht einzusetzen und eine Bereichsausnahme im Beihilferecht für gemeinnützige Dienste zu erwirken. Auch soll dem Freiwilligensektor im neuen Aktionsplan mehr Gewicht zukommen.
Demokratische Partizipation auf allen Ebenen muss zu einem Grundpfeiler der EU werden. Die AWO fordert die neue Bundesregierung daher dazu auf, sich auf europäischer Ebene für die Durchsetzung demokratischer Prinzipien und die Einführung eines parlamentarischen Initiativrechts einzusetzen. Darüber hinaus sollte die Bundesregierung die Umsetzung des zivilen Dialogs analog zum europäischen sozialen Dialog unterstützen, damit auch die Vertreter*innen der Zivilgesellschaft ein echtes Mitspracherecht haben.
[1] Quelle: Eurostat (2021): https://ec.europa.eu/eurostat/data/database. Die folgenden Zahlen beziehen sich auf die EU-27.
Die AWO begleitet die 12 Wochen bis zur Wahl unter dem Motto „Deutschland, Du kannst das!“ mit sozial- und gesellschaftspolitischen Forderungen an die kommende Bundesregierung. Aktuell startet die Themenwoche „Digitalisierung“. Mehr dazu unter: awo.org/bundestagswahl-2021