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Von: Dieter Eckert
Vielfalt im guten Ganztag ist ein unverzichtbares Qualitätskriterium.
Neues Bildungsverständnis als Grundlage eines guten Ganztags
Jeder von uns hat eine bestimmte Vorstellung von Schule – schließlich hat jeder sie mindestens 9 Schuljahre lang besucht. Viele Eltern stellen fest, dass ihre Kinder oft eine ganz andere Schule erleben als sie es noch im 20. Jahrhundert erfahren durften. In der Tat: Schule hat sich enorm gewandelt, sie hat sich geöffnet, greift aktuellen Lebensthemen auf, setzt auf Gruppen- und Projektarbeit, bindet neue digitale Medien ein und vieles Neues mehr - nur eins ist gleich geblieben: Schule bewertet Leistungen, sanktioniert schlechte Ergebnisse und beeinflusst damit maßgeblich die individuellen Lebenschancen.
Das Bildungsverständnis aus der Zeit von Otto von Bismarck ist einem offenen und ganzheitlichen Bildungsverständnis gewichen, welches das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zur Kernherausforderung nimmt. Damit steht nicht mehr die reine Vermittlung von Wissen im Sinne eines enzyklopädisches Wissens im Blickpunkt sondern die zentralen Kernherausforderungen, die das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen bestimmen: seine Selbstpositionierung (etwa eine eigene Meinung oder Haltung finden), seine Verselbständigung hin zu einem individuellen Handeln und seine Qualifizierung verstanden als der Erwerb persönlicher, sozialer, kultureller und praktischer Handlungsfähigkeiten.
Dieses neue Verständnis weist auf einen erweiterten Bildungsbegriff hin, der über die Schule hinausweist. Oder anders formuliert: Der formale Wissensauftrag von Schule ist konzeptionell und strukturell durch eine stärkere und gezielte Einbindung non-formaler und informeller Bildungsangebote zu ergänzen. Diese Verzahnung veranlasst Schule sich zu öffnen für andere Akteure, Bildungsanbieter, Kooperationspartner – sei es aus der Kinder- und Jugendhilfe, der Jugendbildung, der kulturellen-, musischen- oder sportlichen Bildungsarbeit.
Vielfalt als Qualitätskriterium in einem guten Ganztag
…eine vielfältig aufgestellte Kinder- und Jugendhilfe steht bereit
Die Kinder- und Jugendhilfe kennt viele eigenständige Angebote, die sich gezielt in die Ausgestaltung von Angeboten im Sinne eines erweiterten Bildungsverständnisses junger Menschen im Ganztag einbringen (lassen). Sie lassen sich entlang der Paragrafen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) durchbuchstabieren: Jugendarbeit/ außerschulische Jugendbildung (kulturell, musisch, politisch, ökologisch, technisch, gesundheitlich), Jugendverbandsarbeit, Jugendsozialarbeit, Familienbildung/ Elternarbeit, Kindertagesbetreuung. Alle diese Angebote zielen auf eine nachhaltige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu bewussten und sozial kompetenten Persönlichkeiten, motivieren sie für ein aktives soziales Engagement sowie die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung. Junge Menschen sollen befähigt werden, sich mit ihrer persönlichen Biografie und den gesellschaftlichen Verhältnissen auseinander zu setzen sowie Werte, Normen und eigene Lebensentwürfe kritisch zu hinterfragen. Darüber hinaus werden Lernbedingungen geschaffen, die soziale Benachteiligungen aufarbeiten, Defizite aus dem Elternhaus oder des sozialen Umfeldes kompensieren helfen und damit die Grundlage für eine gelingende Integration jedes einzelnen jungen Menschen in die Gesellschaft bilden.
Die „innere Vielfalt der Kinder- und Jugendhilfe“ ist von unschätzbarem Wert für eine sinnstiftende Kooperation mit dem Schulsystem. Diese Vielfalt im Kontext des Systems Schule optimal zu orchestrieren, ist hingegen eine der großen Herausforderungen eines gut gelingenden Ganztags. Ihr Erfolg steht im Spannungsverhältnis traditioneller Gewohnheiten ebenso wie im Respekt vor der als allmächtig empfundenen Schule. Letztendlich mit Blick auf das Wohl des Kindes sollten Empfindlichkeiten, Ängste, Ohnmachtsphantasien hinten anstehen. Jeder Beitrag, der respektvoll und sich am Wohlbefinden des Kindes orientiert, hat seinen eigenen Wert!
Die Vielfalt der Angebote der Kinder- und Jugendhilfe ist ihre Stärke und Schwäche zugleich. Die Praxis vor Ort zeigt, dass diese Vielfalt seitens der außerschulischen Träger oft als parallel laufende Einzelangebote und ohne eine innere konzeptionelle Abstimmung bzw. Ausgestaltung im Sinne eines gemeinsamen Jugendhilfekonzeptes abläuft. Ein einheitlich abgestimmtes Auftreten der Kinder- und Jugendhilfe würde ihre Rolle gegenüber der Schule enorm stärken. Dies bedeutet ebenso, dass die sozialpädagogischen Mitarbeiter*innen in der Schule stärker in die Breite der jeweiligen kommunalen Jugendhilfelandschaft eingebunden sein müssten.
…ein vielfältig strukturiertes Angebotsszenario am Ort Schule will gemanagt sein zum Wohlbefinden der Kinder
Der erweiterte Bildungsbegriff folgt dem Ziel, die Ganzheitlichkeit der Kinder und Jugendlichen zu erkennen, zu verstehen und im zeitlichen Rahmen ihrer schulischen Anwesenheit durch gezielte Lern- und Erfahrungsarrangements zu fördern. Dem dient eine Vielfalt an innerschulischen und intersektoralen Gestaltungsformen. Der schulische „Ganztag“ ist ein lebendiges Gebilde an unterschiedlichen Personengruppen (Lehrer*innen, sozialpädagogische Fachkräfte, Mitarbeitende auf Honorarbasis, Ehrenamtliche, Freiwillige) mit unterschiedlicher zeitlicher Anwesenheit, mit zusammengefügten oder aneinander gereihten Veranstaltungstypen (Unterricht, Mittagspause, Freizeitgestaltung, Projektangebote, Einzelförderung, Gruppenangebote) und dies oft noch an unterschiedlichen außerschulischen Orten (in der Jugendfreizeiteinrichtung, im Museum, in der Stadtbibliothek).
Die gewünschte Vielfalt an Angeboten darf nicht zufällig oder gar willkürlich sein – sie sollte insbesondere verantwortlich gemanagt werden. Hierfür bedarf es wichtiger Stellschrauben und Vereinbarungen, an deren Beginn der politische Wille und die volle Unterstützung für eine strategische Gesamtkonzeption von Bildung, Betreuung, Beratung und Erziehung in der Schule stehen. Es bleibt unverzichtbar, dass Schule und Jugendhilfe unter Einbindung der Schüler*innen und ihrer Eltern gemeinsam das Ganztagskonzept ihrer Schule entwickeln. Dieses gründet auf einem gemeinsamen Grundverständnis zu Zielen und Auftrag des Ganztags ebenso wie auf Vereinbarungen zu Fragen der Zeitstruktur, der Angebots-, Mittags-, Raum- und Ausstattungskonzepte unter Berücksichtigung qualitativer Vorgaben aber auch der inklusiven Ausrichtung allen Handelns.
Bei allen Angeboten gilt es sicherzustellen, dass ein guter Ganztag auch zeitliche Freiräume und Wahlmöglichkeiten beinhaltet, die Kinder selbstbestimmt und eigenverantwortlich füllen können. Eine totale Verplanung des Ganztags ist nicht im Sinne mündig werdender junger Menschen!
Immer mehr Bundesländer regeln die Qualität im Ganztag über Empfehlungen und Rahmenvorgaben (etwa über Qualitätsdimensionen in Hamburg und in Baden-Württemberg, über Qualitätsrahmen in Sachsen und Hessen, über kommunale Qualitätszirkel in NRW) oder richten Modellprojekte ein – wie etwa in Bayern das Konzept der Kooperativen Ganztagsbildung in der Grundschule (als Beispiel die Konzeption der AWO München Stadt). Diese Orientierungen richten sich sowohl an Schule als auch an die vielen Kooperationspartner im Ganztag.
An zentralen Qualitätsbereichen kristallisieren sich in vielen Bundesländern durchgängig gemeinsame Module heraus: Steuerung durch die Schule aktiv wahrnehmen, Unterricht und Angebote wirksam verzahnen, Schul- und Lernkultur pflegen, Zeitkonzept und Rhythmisierung regeln, individuelle Förderung ermöglichen, Pausen- und Mittagskonzept entwickeln, Raum- und Ausstattungskonzept erstellen, Kooperation mit außerschulischen Partnern planen und leben, Schüler*innen und ihre Eltern aktiv einbinden, Qualität im Ganztag entwickeln und sichern. Dies alles braucht seine Zeit – deshalb gehören eine Portion Geduld und Beharrlichkeit, Offenheit und Zielstrebigkeit zur gemeinsamen, partnerschaftlichen Entwicklung eines guten Ganztagskonzeptes dazu. In diesem Prozess sind Schule und Jugendhilfe nicht alleine gelassen. Bundesweite Beratungsdienste mit regionalen Serviceagenturen beraten interessierte Schulen und Träger, entwickeln Konzepte, fördern den Fachaustausch, vermitteln gute Beispiele oder bieten Fortbildungen an (siehe etwa das langjährige Programm Ganztägig lernen der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung oder die Servicestelle „Ganztägig lernen“ in Hessen oder das Beratungsangebot für NRW angedockt an das Institut für Soziale Arbeit/ ISA in Münster).
…arme und von Armut besonders betroffene Grundschulkinder erfordern eine sensible Beachtung
Armutsbetroffene Kinder und ihre Familien und die damit oft einhergehende Not machen auch vor der Schule und im Ganztag nicht Halt. Die Bildungs- und Teilhabechancen dieser Kinder und Jugendlichen sind aufgrund vielfältiger Problemlagen beeinträchtigt; sie erfordern besonders armutssensible Bildungs- und Betreuungsangebote. Insbesondere die AWO-/ISS-Langzeitstudie zur Kinder- und Jugendarmut in Deutschland von 1997 bis 2012 und von 2017 bis 2019 (zentrale Studienergebnisse) hat eine genaues Profil des Kindgesichtes der Armut gezeichnet. Das durch die Studien entwickelte kindgerechte Armutskonzept hat die Folgen von Armut im Spannungsfeld von Wohlergehen und multipler Deprivation eindrucksvoll aufgezeigt. In der Konsequenz wurde deutlich, dass diese Krisensituationen frühzeitig und umfassend wahrgenommen und durch ein präventiv wirkendes Hilfesystem aufgefangen werden müssen. Insbesondere die AWO-/ISS-Vertiefungsstudie „Armut im frühen Grundschulalter“ (2003/2013) gibt detaillierte Hinweise zu den Lebenssituationen, Ressourcen und Bewältigungshandeln von Grundschulkindern. Gemäß des Leitprinzips „Prävention statt Reaktion“ ist eine enge Verzahnung von Kita/ Schule/ Jugendhilfe und ein Ausbau der Qualifizierungs- und Betreuungsangebote innerhalb und außerhalb von Schule sowie der Ausbau der Angebote der Jugendhilfe insgesamt unabdingbar. Aktuell hat die Corona-Krise die besondere Betroffenheit armer Kinder sichtbar werden lassen (siehe Statement aus der Armutsprävention von ISS und LVG & AFS, April 2020).